Der Ukrainekrieg ist ein Weltkrieg, und Machterhalt ist ein Lernprozess. Die Ereignisse der letzten drei Wochen im Iran sind ebenso bedrückend wie lehrreich. Die Revolutionsgarden zeigen dieser Tage, was sie aus der Vergangenheit gelernt haben: Diese „Allmächtigen“ sind endlich am Ziel, Präsident Raissi ist ihr treuer und zugleich unfähiger Ergebener.
Von Ali Sadrzadeh
Ein Versuchsballon ist nicht immer ein Ballon. Auch Produkte, Personen und Programme können als Versuchsballons fungieren. Denn auch sie testen eine Atmosphäre – eine gesellschaftliche.
War Saeed Mohammad, Brigadegeneral der Revolutionsgarden, auch ein Versuchsballon? Er war Exekutivdirektor, Kommandant von Khatam-al-Anbiya, dem wichtigsten Industriekonglomerat der Garden, und zugleich Universitätsprofessor. Im vergangenen Jahr, einen Monat vor der Präsidentschaftswahl, legte der 53-Jährige plötzlich all diese Ämter nieder. Er wolle Hassan Rouhani beerben und Präsident werden, ließ Mohammad damals verlauten. Im zivilen Anzug, mit gestutztem Bart und einer neuen, weltlichen Sprache wurde er in den entsprechenden Medien als erfolgreicher Manager des größten Industriekomplexes des Landes, quasi als Alleskönner gefeiert, ein Mann gerade richtig für die diversen Miseren des Irans.
Was war geschehen? Hatte Mohammad eigenmächtig gehandelt? Oder wollten die Revolutiosgarden aus dem Schatten treten und kein Staat im Staate mehr sein? Darf ein Offizier der Garden überhaupt Präsident werden? Galt das Wort von Ayatollah Chomeini, dem Gründer der Islamischen Republik, nicht mehr, der den Militärs verboten hatte, nach politischer Macht zu greifen? Und was sollte aus Ibrahim Raissi werden, von dem jeder wusste, dass er vom mächtigsten Mann des Landes, Chomeinis Nachfolger Ali Chamenei, protegiert wird? Oder war Chamenei gar nicht so mächtig?
Der gelungene Versuch
Diese und ähnliche Spekulationen fanden ein Ende, als der Gardist kurz vor den Wahlen erklärte, er ziehe seine Kandidatur zurück und stelle seine „junge Kampfmannschaft“ in den Dienst Ibrahim Raissis, der dann tatsächlich ins Amt gehievt wurde. Nach seiner Wahl machte Raissi Mohammad zu seinem Berater für die Freihandelszonen des Landes.
Rückblickend sei Mohammads Kandidatur eine sehr gelungene Aktion gewesen, kommentierte nach der Wahl die Webseite Javan, eins der wichtigsten Medienorgane der Revolutionsgarden.
Was war gelungen? Die Menschen im Iran achteten die Leistungen der Revolutionsgarden und hätten kein Problem damit, wenn ein Gardist „in schwierigen Zeiten wie diesen“ Präsident werde, so Javan weiter. Verglichen mit dem „Blutrichter“ Raissi schien Mohammad tatsächlich für manche hinnehmbarer. Als Raissi 1988 innerhalb weniger Wochen Todesurteile gegen Tausende Oppositionelle vollstrecken ließ, war Mohammad noch Gymnasiast. Er absolvierte dann immerhin eine Hochschule, während Raissi nur die Grundschule besucht hat.
Der Versuchsballon funktionierte. Die Stimmung schien keineswegs negativ zu sein, obwohl weder real noch laut Verfassung die eigentliche Macht im Iran beim Präsidenten liegt. Die Zeit schien reif, um zu testen, ob die Revolutionsgarden einen ihrer Kommandanten zum Präsidenten küren können. Es ging lediglich um die offizielle Repräsentation des Landes.

Die „Allmächtigen“ am Ziel
Die Schaltstellen der eigentlichen Macht besitzen und besetzen sie längst, heute mehr denn je. Die wichtigsten Minister des Kabinetts wie Innen-, Außen-, Verteidigungs-, Öl- und Wirtschaftsminister, fast alle Provinzgouverneure, der Parlamentspräsident und die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten, auch der Bürgermeister der Hauptstadt Teheran – alle sind aktive oder freigestellte Offiziere der Garden. Außen- und Atompolitik war immer ihre Domäne. Inzwischen kontrollieren sie auch den mittleren Staatsdienst. Die hybride Republik ist in Wahrheit zu einem perfekten Militärstaat mutiert. Kommandant Mohammad, der einstige Kandidat, hat heute unter Raissi eine sehr wichtige Funktion. Er kontrolliert alles, was in den Zonen ankommt, in denen die Garden einen großen Teil ihres illegalen Handels betreiben.
Will man wissen, wie dieser Staat im Kern funktioniert und wohin er treibt, muss man Publikationen der Garden lesen oder ihren Kommandanten lauschen, und sich den Alltag der Menschen genau anschauen. Die Revolutionsgarden sind endlich da, wo sie immer hinwollten. Sie sind nicht mehr nur Gegenpol des gewählten Präsidenten. Raissi sagt und tut genau das, was sie wollen. Die Wendung von Koch und Kellner wäre übertrieben. Die Garden sind mehr als Koch. Sie sind wie Restaurantbesitzer, die bestimmen, was gekocht und wie serviert werden soll. Jahre haben sie gebraucht, um ihre Gegner kaltzustellen. Oft taten sie dies wortwörtlich. Aber wo wollen sie hin? Eine klare Antwort fällt dem Beobachter schwer. Was sie wirtschaftlich vorhaben, lassen sie Raissi ab und zu vom Blatt ablesen. Doch selbst das schafft der Präsident nicht immer.
Sicherheitsökonomie pur
Der Alltag der Menschen zeigt, wohin die “Allmächtigen“ unterwegs sind. Die Revolutionsgarden planen offenbar eine Wirtschaft der totalen Sicherheit. Ob das klappt, werden wir in den nächsten Monaten erfahren – viele zweifeln daran. Die Konturen ihres Vorhabens kann man bereits erkennen. Und die sind katastrophal genug.
Ob das, was wir sehen, Aktionismus, Plan oder einfach Instinkt des Machterhalts ist, oder gar alles zusammen, das bleibt offen. Was die Garden wirtschaftlich vorhaben, ist auf den ersten Blick widersprüchlich. Eine große Entscheidung, die sie bereits in die Tat umgesetzt haben, zeigt, dass sie den gesamten Alltag aller Bürger*innen kontrollieren wollen. Von Subventionen dürfen künftig nur bestimmte Menschen profitieren. Für Mehl, Milchprodukte, Benzin und andere Bedarfsgüter gibt es deshalb keine staatliche Förderung mehr. Offiziell leben 70 Prozent der Iraner*innen unter oder an der Armutsgrenze.
Hilfe wird künftig nur noch gezielt an bestimmte Menschen gezahlt, ob mit direkter Lebensmittelverteilung, Geldüberweisung oder Warengutscheinen, darüber wird noch gestritten. Brot, Zucker oder Öl: Hilfe bekommt, wer sich mit seinem „National-Code“ registrieren lässt, hauptsächlich im Internet. Dass Renitente, Oppositionelle oder sonstwie nicht Genehme keine Hilfe brauchen, versteht sich von selbst. Waren chinesische IT-Berater am Werk? Höchstwahrscheinlich.
Die Revolutionsgarden haben nicht genug Geld, und das, was sie haben, brauchen sie für ihre Aktionen im Ausland. Ihnen fehlen Devisen, und das wird einstweilen so bleiben. Denn sie rechnen mit einer noch unruhigeren Welt, in der sie nicht nur überleben, sondern auch ihre Macht erhalten müssen. Eine Öffnung im Innern ist deshalb nicht in Sicht, auch ein Ende des Atomstreits nicht. Ohne eine Einigung darüber gibt es aber weder normale Wirtschaftsbeziehungen mit der Außenwelt noch einen geregelten Ölverkauf. Sie werden das Atomabkommen erst unterschreiben, wenn Putin nickt. Danach sieht es aber derzeit nicht aus.
Am vergangenen Montag sprach der russische Außenminister Lawrow von einem kommenden Eurasischen Bündnis aus Russland, Indien und dem Iran. Wie sich die Revolutionsgarden in einem solchen Club bewegen werden, lässt sich nur erahnen. Spätestens hier begreift man, dass der Ukrainekrieg ein Weltkrieg ist.
Im Inneren sind die Garden derzeit mit aller Macht dabei, die Folgen der massiven Preissteigerungen auf ihre Art zu lösen: mit ostentativen Machtdemonstrationen auf den Straßen, Verhaftungen und Einschüchterung, wohin man schaut. Cineasten, Schriftsteller, Frauenaktivistinnen, Journalisten und die Rudimente der Zivilgesellschaft erzählen dieser Tage von Repressalien, die an die Revolutions- und Kriegstage erinnern. Sie bereiten sich offenbar auf noch unruhigere Zeiten vor.
„Gruß, Kommandant!“
Diesen Gruß soll niemand ignorieren, im ganzen weiten Land nicht, ob an der türkischen Grenze oder an der fast 3.000 Kilometer entfernten pakistanischen, ob am Persischen Golf oder ganz im Norden am Kaspischen Meer. Alle sollen, müssen diesen Gruß hören, der in Wahrheit eine Hymne ist, die demnächst täglich an allen Schulen gesungen werden soll. Militärischer Gruß und militärische Haltung sind Teil der Hymne. Im Azadi-Sportpalast, dem größten Fußballstadion des Landes, sollen an diesem Donnerstag Hunderttausende Kinder diese Hymne in verschiedenen Versionen singen, TV-Übertragung inklusive.
Diese unüberhörbare Kampfbereitschaft kam am vergangenen Freitag auch aus der Kehle von zig Tausenden Angehörigen der Milizen und Garden in verschiedenen Teilen des Landes. Tagelang hatte man massiv dafür geworben.
Hauptschauplatz war die Provinz Chuzestan an der irakischen Grenze. Hier gab es wegen horrender Preissteigerungen wochenlang Demonstrationen. Die Inflation liegt zwar offiziell bei 46 Prozent, doch die Realität sieht anders aus. Manche Güter verteuern sich stündlich. Die Aufmärsche in Chuzestan fanden hauptsächlich in den Abend- und Nachtstunden statt, denn tagsüber steigen die Temperaturen dort auf über 40 Grad. Die Dunkelheit bietet außerdem einen gewissen Schutz. Die Unruhen erschüttern das Land wahrlich, zumal auf diesen Demonstrationen sehr schnell politische Parole gegen Präsident Raissi und Revolutionsführer Chamenei laut werden.
Dazu kommen die seit Wochen andauernden Demonstrationen von Lehrerinnen und Lehrern. Sie haben inzwischen das ganze Land erfasst, Schülerinnen und Schüler zeigen sich mit ihrem Lehrpersonal solidarisch. Mindestens 40 Lehrer sind in den letzten Tagen verhaftet worden.
Iran Journal