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Er kann seinen härtesten Gegner nicht mehr ignorieren: Wladimir Putin hat sich persönlich zu Alexej Nawalnys Enthüllungen geäußert. Was der
Kremlchef sagt, wird seine Kritiker kaum beruhigen.
Von Christina Hebel, Moskau
Mehr als 80 Millionen User hatten das neue Enthüllungsvideo von Alexej Nawalny schon angeklickt, als sich Wladimir Putin überraschend selbst zu Wort meldete. »Nichts von dem, was dort als mein Eigentum gezeigt wird, gehört und gehörte mir oder meinen engsten Verwandten. Niemals«, sagte der Kremlchef zu Wochenbeginn in einer Onlinekonferenz mit Studierenden des Landes.
Nawalny, der nach einer Vergiftung gerade erst nach Russland zurückgekehrt war und sofort inhaftiert wurde, berichtet in seinem YouTube-Film über ein Luxusanwesen an der Schwarzmeerküste. Finanziert werde diese Villa für Putin über ein System von Firmen und Scheinunternehmen von langjährigen Vertrauten mit Schmiergeldern, erzählt der Oppositionelle in dem zweistündigen Video »Ein Palast für Putin«. Darin präsentiert Nawalny genüsslich den Luxus der großzügigen Nobelanlage: eine Aquadisco, eine unterirdische Eishockeyhalle, teure italienische Möbel, eine Bar mit Poledance-Stange, Weinberge.
Putin sagte dazu: Einige in dem Film erwähnten Menschen seien enge Freunde, ehemalige Kollegen, manche entfernte Verwandte, andere kenne er gar nicht. Und überhaupt, wenn es sich um solch ein teures Anwesen handele, müsse es darüber auch genaue Dokumente geben, selbst in Ehen gebe es Verträge, führte er am Montag umständlich aus. Sein Name jedenfalls tauche in Papieren zu der Villa nicht auf, so Putins Botschaft. Und Geschäfte zu machen, habe ihn nie interessiert. Wenn, dann interessiere ihn von dem, was er nur in Auszügen von dem Film gesehen habe, der Weinbau, »aber nicht als Geschäft, sondern als Tätigkeit«.
Es ist eine ungelenke, schwache Stellungnahme. Nawalny hatte nie behauptet, dass Putin in offiziellen Dokumenten in Zusammenhang mit dem Palast erwähnt wird, sondern ausführlich das Korruptionsgeflecht von Strohmännern um den Präsidenten herum erläutert.
Zentrale Fragen ließ der Kremlchef zudem unbeantwortet:
Auch Kremlsprecher Dmitrij Peskow beantwortete diese Fragen bisher nicht. Am Dienstag äußerte er sich erneut: Man habe die Fragen an den FSO und FSB weitergeleitet. Das Gelände und Anwesen gehörten Geschäftsleuten, dessen Namen der Kreml nicht veröffentliche könne, er habe dazu kein Recht.
Zuvor hatte Peskow bereits in der reichweitenstarken Nachrichtensendung »Westi Nedeli« des Staatssenders Rossija 1 ausführlich über Nawalnys Video gesprochen, ohne ihn wie immer beim Namen zu nennen: Er beklagte »Lügen« und »Informationsattacken gegen den Präsidenten«, die die Menschen aufwiegeln sollten. Putin selbst ging noch weiter: Es werde versucht, »die Hirne unserer Bürger zu waschen«, womit er letztendlich unterstellte, dass die Menschen nicht selbst denken könnten.
Proteste in den Provinzstädten
Doch die gingen zu Zehntausenden am Samstag auf die Straße – und das eben nicht nur in den liberalen Hochburgen Sankt Petersburg und Moskau, sondern auch in über 120 Orten des Landes, darunter Provinzstädte wie Pensa, 550 Kilometer südöstlich von Moskau, oder Nischnij Tagil, einer Stadt am Uralgebirge.
Der Kreml versucht, diese Proteste nun kleinzureden: »Nein, es sind wenige Menschen hingegangen. Viele Menschen stimmen für Putin«, sagte Peskow.
Was in Russland aber wenig und viel bedeutet, ist nach so vielen Jahren der Putin-Herrschaft so eine Sache: Wahlen werden unter dem Langzeitpräsidenten quasi ohne Konkurrenz organisiert, echte Oppositionelle wie Nawalny zu Abstimmungen erst gar nicht zugelassen. Unzufriedenen wird zudem immer wieder signalisiert, dass Russland ohne Putin in eine ungewisse Zukunft, womöglich Chaos schlittern könnte.
Allerdings lebt nur eine Minderheit in Russland im Jahr 2021 wirklich gut, die Mehrheit der Menschen, vor allem abseits der großen Städte, kommt lediglich über die Runden. Die Armut ist in den letzten Jahren gewachsen, die Mittelschicht schrumpft, die Pandemie verstärkt die wirtschaftliche Krise. Selbst in Moskau stehen nun Ladenlokale im Zentrum leer.
»Sieg des Internets«
Nawalny hat es in dieser Lage geschickt vermocht, Unzufriedene zu mobilisieren. Es sind vor allem die Jüngeren, Frauen und Männer zwischen 18 und 35 Jahren, viele gingen am Samstag zum ersten Mal auf die Straße. Das Staatsfernsehen schalten sie nur noch selten ein, informieren sich überwiegend im Internet.
Hier hat Nawalny eine starke Präsenz auf YouTube und anderen sozialen Medien aufgebaut. Selbst auf TikTok, bislang eigentlich eher eine Plattform für kurze, unterhaltende Videoposts, beherrscht der Oppositionelle die Trends: 1,5 Milliarden Aufrufe verzeichnet sein Hashtag #Nawalny inzwischen, dabei war der Oppositionelle dort wenig aktiv.
Der Kreml kann den »einfachen Blogger« nicht mehr ignorieren und wie so oft zuvor verschweigen. »Wir sehen das erste Mal den Sieg des Internets über das Fernsehen«, sagte Nawalnys Vertrauter Leonid Wolkow. Er hat für Sonntag neue Proteste angekündigt. In Moskau rufen die Anhänger des Oppositionellen auf, sich vor dem Sitz des FSB zu versammeln.
Die russische Führung ist nun in einem Dilemma: Je häufiger sich Putin zu Nawalny und dem Film äußert, umso bekannter macht er den scharfen Kremlkritiker. Und mit jeder Stellungnahme steigen die Zugriffe auf YouTube weiter – nur einen Tag nach Putins Auftritt sind es bereits 91 Millionen Views.
Spiegel Online