Es ist ein Deal der Superlative. Er umfasst nahezu ein Drittel der Weltbevölkerung und 30 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts. Die 15 Asien-Pazifik-Staaten, welche in der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) zusammenkommen, bilden gemeinsam den größten Handelsblock der Welt.
Von der Unterzeichnung auf dem virtuell abgehaltenen 37. Gipfel der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) gehen vor allem zwei Botschaften aus. Zum einen ein klares Bekenntnis zu offenen Handelswegen und regionaler Zusammenarbeit. In einer unter anderem durch die Corona-Pandemie, den Rückzug der USA und die Krise des Multilateralismus zunehmend fragmentierten und von Protektionismus geprägten Welt, ist das ein wichtiges Signal. Zum anderen zeigen die Staaten Ost- und Südostasiens, dass sie für Handelspartner nicht mehr primär in den Westen schauen müssen. Sie schreiben die Geschichte unserer von vielen als „asiatisches Jahrhundert“ bezeichneten Epoche selbst.
China ist die mit Abstand größte Volkswirtschaft in RCEP. Gleichzeitig handelt es sich nicht um ein Abkommen von Pekings Gnaden. Im Gegenteil, zu verdanken ist sein Zustandekommen dem regionalen Staatenverbund ASEAN. Auf ihn ging die ambitionierte Initiative im Jahr 2011 zurück und er führte die Verhandlungen in den vergangenen neun Jahren. Es ging oft langsam und nur mit allseitigem Einverständnis voran – ganz im Sinne des oft zitierten „ASEAN Way“.
Dieses Vorgehen hat sich am Ende jedoch ausgezahlt. Besonders bemerkenswert und zweifelsohne historisch: China, Japan und Südkorea kommen erstmals in einem Handelsbekommen zusammen. Schwer vorstellbar, dass dies vor dem Hintergrund der schwierigen Beziehungen zwischen den drei ostasiatischen Ländern auf direktem Weg hätte gelingen können. Hier half das Spielen über die „regionale Bande“. Das Abkommen ist somit ein Beispiel für erfolgreiche „Middle Power Diplomacy“.
RCEP beeindruckt vor allem aufgrund seiner schieren Größe. In der Sache ist es weniger tiefgehend und weitreichend als andere Handelsabkommen, was auch an der enormen Heterogenität der beteiligten Länder liegen dürfte: von Industriestaaten wie Australien, Neuseeland oder Singapur über Schwellenländer wie Thailand und Vietnam bis hin zu den Entwicklungsländern Kambodscha, Laos und Myanmar. Viele der beteiligten Länder verfügen zudem bereits über Handelsabkommen untereinander. RCEP gibt ihren Beziehungen also eher einen Überbau.
Für die meisten Länder der Region ist eine Balance zwischen China und den USA identitätsstiftend in ihrer Außen-, Handels- und Sicherheitspolitik.
Die 20 Kapitel auf 520 Seiten sehen unter anderem Zollsenkungen (teilweise nicht besonders ehrgeizig und mit sehr langen Übergangszeiträumen), die Vereinfachung von Bürokratie, einen einheitlicheren Rahmen für geistiges Eigentum und Investitionen, Normangleichung und eine Harmonisierung von Herkunftsbestimmungen vor. Gestärkt werden dürften dadurch vor allem innerasiatische Wertschöpfungsketten und die Produktion in der Region. Entsprechend positiv wird RCEP von Unternehmen vor Ort bewertet.
Vereinbarungen zu Arbeitsrechten und Umweltstandards fehlen hingegen vollkommen. Lokale Arbeitnehmervertreter und zivilgesellschaftliche Organisationen schauen daher skeptisch auf RCEP. Kritisiert werden die mangelnde Transparenz und fehlende Beteilungsmöglichkeiten, obendrein in einer Weltregion, in der prekäre Beschäftigungsverhältnisse allgegenwärtig sind und unabhängige Gewerkschaften um ihr Überleben kämpfen.
Für eine umfassende Einschätzung des transformativen Potentials von RCEP ist es noch zu früh. Die konkrete Umsetzung der zuweilen vagen Bestimmungen bleibt abzuwarten. Zum Inkrafttreten ist die Ratifikation durch sechs ASEAN- und drei nicht-ASEAN-Länder erforderlich. Auch sind weitere Abkommen in unterschiedlichen Konstellationen wahrscheinlich. Für die meisten Länder der Region ist eine Balance zwischen China und den USA identitätsstiftend in ihrer Außen-, Handels- und Sicherheitspolitik. Man will nicht exklusiv im Korb der einen oder anderen Supermacht landen.
Ebenso wenig verschwinden über Nacht andere Konflikte wie jene im Ost- und Südchinesischen Meer oder die seit Monaten anhaltenden Spannungen zwischen Australien und China. Indien hatte sich im letzten Jahr aus RCEP mit Sorge um die negativen Folgen für heimische Industrien zurückgezogen. Die Tür für Neu-Delhi bleibt zwar explizit offen, aber wahrscheinlich ist eine Rückkehr vor dem Hintergrund des andauernden Konfliktes mit China aktuell nicht.
Die USA sind nun von gleich zwei massiven Handelsblöcken im Pazifik ausgeschlossen.
RCEP verändert die geoökonomische Landkarte in Asien. Anders als von CDU-Vorsitz-Kandidat Friedrich Merz jüngst in der TV-Sendung Anne Will behauptet, muss sich die Europäische Union aber keinesfalls Untätigkeit vorwerfen lassen. So traten in diesem und letztem Jahr EU-Handelsabkommen mit Japan, Singapur und Vietnam in Kraft. Sie haben eine größere Tiefe als RCEP und vor allem explizite Nachhaltigkeitskapitel. Sie setzen Qualitätsstandards und sind deutlich ambitionierter – bei allen praktischen Herausforderungen in der Umsetzung. Und sie unterstreichen, dass es einen Unterschied macht, wo die Regeln für die internationalen Handelsbeziehungen der Zukunft geschrieben und Normen gesetzt werden: ob in Südostasien, Brüssel, Peking oder Washington und mit welchen Partnern.
Für die Vereinigten Staaten stellt sich die Lage deutlich schwieriger dar. Sie sind nun von gleich zwei massiven Handelsblöcken im Pazifik ausgeschlossen. Das nach dem Rückzug der USA unter Donald Trump aus dem Vorgängerabkommen TPP entstandene Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP) umfasst elf Anrainerstaaten, darunter sieben RCEP-Länder. Es ist in seiner inhaltlichen Breite und dem Umfang der Zollsenkungen ehrgeiziger als RCEP. Ihm wieder beizutreten, dürfte für die neue Biden-Administration trotzdem alles andere als einfach werden – so es überhaupt gewollt ist.
Zu gewaltig sind die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verwerfungen in den USA, zu übermächtig die Coronakrise und zu stark die Skepsis bei der Arbeiterschaft im sogenannten Rust Belt, als dass ein Freihandelsabkommen dieser Größenordnung für eine auf die Innenpolitik konzentrierte neue US-Regierung prioritär wäre. Aufhorchen ließ freilich die jüngste Äußerung von Chinas Staatschef Xi Jinping, er könne sich einen CPTPP-Beitritt vorstellen.
Von Joe Biden kann ein anderes Auftreten in Art und Ton gegenüber China erwartet werden. Eine andere Politik in der Sache scheint hingegen unwahrscheinlich. China und die USA befinden sich in einem mutmaßlich jahrzehntelangen Systemwettbewerb um politische, wirtschaftliche und militärische Dominanz, Versorgungsrouten, Ressourcen, künstliche Intelligenz und die technologische Vorherrschaft im 21. Jahrhundert. Das hat Folgen für Asien und die ganze Welt.
Deutschland ist sich diesen Herausforderungen bewusst. Von den jüngst veröffentlichten Leitlinien der Bundesregierung für den Indo-Pazifik geht ein starkes Signal aus: für Multilateralismus, die Stärkung regionaler Kooperation und wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Die Ausgestaltung einer regelbasierten internationalen Ordnung von morgen, so Bundesaußenminister Heiko Maas, wird im indo-pazifischen Raum entschieden. RCEP und seine vielschichtigen regionalen und globalen Implikationen sind hier nur ein erstes Kapitel.
Leuchtturm ohne Feuer
Im Jahr 1998 bezeichnete die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright die Vereinigten Staaten als „unverzichtbare Nation” und erklärte: „Wir stehen aufrecht und blicken weiter in die Zukunft als andere Nationen.” Zwanzig Jahre später präsentieren sich die USA zwar immer noch als unverzichtbare Nation, doch anstatt in die Zukunft zu blicken scheint man in letzter Zeit die Augen verschlossen zu haben. Bedeutet Joe Bidens Sieg bei den Präsidentenwahlen in diesem Monat, dass die USA ihre Augen wieder öffnen werden?
Eines ist klar: hätte Donald Trump eine zweite Amtszeit gewonnen, wäre das von Albright beschriebene Schicksal der USA besiegelt gewesen. Jenes Amerika, das die – von den universellen Prinzipien in der Atlantik-Charta des Jahres 1941 geprägte – liberale internationale Ordnung lange Zeit gestützt hat, wäre ein für alle Mal zerstört worden.
Und doch garantiert Bidens bevorstehende Präsidentschaft keineswegs eine Rückkehr zu amerikanischer Führerschaft und Vision, wie sie in der Vergangenheit existierte. Ja, es handelte sich um einen klaren Wahlsieg. Biden konnte über 79 Millionen Stimmen auf sich vereinigen, mehr als jeder andere US-Präsident vor ihm. Und er gewann die gleiche Anzahl an Stimmen der Wahlkollegien wie Trump im Jahr 2016, als dieser für sich in Anspruch nahm, einen „massiven Erdrutschsieg“ errungen zu haben, obwohl er weniger Stimmen erhalten hatte als Hillary Clinton.
Nichtsdestotrotz stimmten dieses Jahr mehr als 73 Millionen Menschen für Trump – etwa zehn Millionen mehr als 2016. Das bedeutet, er konnte die zweithöchste Anzahl an Stimmen auf sich vereinigen, die jemals für einen US-Präsidentschaftskandidaten abgegeben wurden. Und Trumps unbegründete Behauptungen von weit verbreitetem Wahlbetrug – die von großen Teilen des republikanischen Partei-Establishments unterstützt werden, das sich größtenteils weigerte, Biden zu seinem Sieg zu gratulieren – haben etwa die Hälfte der US-Republikaner überzeugt, Trump sei der „rechtmäßige“ Wahlsieger.
Dieser Wahlgang war alles andere als eine umfassende Absage an Trump und den Trumpismus und er hat gezeigt, dass sich Trumps Einfluss weit über seine Präsidentschaft hinaus erstrecken wird. Von den bleibenden Narben für Amerikas Demokratie und internationales Ansehen, die Trumps fortgesetzte Anfechtungen der Wahlergebnisse – vor Gerichten und im öffentlichen Bewusstsein – hinterlassen, ganz zu schweigen.
Der designierte Präsident hat bereits zugesagt, dass sich die USA dem Pariser Klimaabkommen, der Weltgesundheitsorganisation und dem Atomabkommen mit dem Iran wieder anschließen werden.
Freilich wird dieses Vermächtnis in naher Zukunft auf internationaler Ebene wohl nicht in vollem Umfang spürbar sein. Die Regierung Biden wird versuchen, die Rolle Amerikas in multilateralen Institutionen wieder zu stärken. Der designierte Präsident hat bereits zugesagt, dass sich die USA dem Pariser Klimaabkommen, der Weltgesundheitsorganisation und dem Atomabkommen mit dem Iran wieder anschließen werden. Zu weiteren wahrscheinlichen Maßnahmen zählt auch die Aufhebung der Blockade von Ernennungen in das für die Streitbeilegung unter den Mitgliedern zuständige Berufungsgremium der Welthandelsorganisation – ein Schritt von praktischer und auch symbolischer Bedeutung.
Doch obwohl diese Zugeständnisse an den Multilateralismus durchaus bedeutsam sind, müssen die Erwartungen, dass die USA ihre globale Führungsrolle rasch wieder einnehmen, gedämpft werden. Obwohl die USA die vorherrschende Militär- und Wirtschaftsmacht sowie auch eine bedeutende kulturelle Kraft bleiben, sind sie kein Hegemon. Sie können die Richtung der internationalen Beziehungen nicht mehr bestimmen.
Sehr wohl jedoch können die USA verschiedene internationale Akteure mobilisieren, um gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen. Wenn die USA allerdings ihre internen Spaltungen nicht überwinden, wird selbst diese „Initiativkraft” – die Bidens ersten Bemühungen zur Wiederherstellung des Multilateralismus wohl zugrunde liegen wird – mittel- bis langfristig wahrscheinlich ausgehöhlt werden.
Initiativkraft präsentiert sich nuancierter als schlichte Hegemonialmacht. Sie beruht nicht nur auf Kapazität und Einfluss, sondern auch auf einem Gefühl moralischer Autorität, die gemeinsamen Maßnahmen Legitimität verleiht und mit der Partner gewonnen werden können. Initiativkraft heißt, ein Beispiel für Liberalismus und Multilateralismus zu sein und nicht nur Forderungen zu stellen. Doch so gespalten wie sich die USA von heute präsentieren, sind sie nicht in der Lage als entsprechendes Beispiel voranzugehen.
Es steht viel auf dem Spiel. Kommt es zu einer weiteren Schwächung der Stützen, auf denen die internationale Ordnung aufgebaut wurde, werden sich die gefährlichen Tendenzen der letzten Jahre – die sich an den weltweit fehlenden koordinierten Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie beispielhaft äußern – fortsetzen. Sogar das diplomatische Muskelgedächtnis, das die begrenzten Beispiele der jüngsten Zusammenarbeit ermöglicht hat, wird verblassen.
Obwohl die USA die vorherrschende Militär- und Wirtschaftsmacht sowie auch eine bedeutende kulturelle Kraft bleiben, sind sie kein Hegemon.
Warum sollte nicht ein anderes Land führen? Weil es schlicht und einfach kein anderes Land kann. Es gibt keinen Einzelakteur und auch keine Gruppe von Akteuren, die in der Lage wäre, Amerikas Platz einzunehmen.
Man denke an die Europäische Union, die sich seit langem als potenzieller Bannerträger liberaler Werte präsentiert. Sie kann zweifellos auf viele Attribute eines Vorbilds verweisen: lebendige und vielfältige Kulturen, dynamische Zivilgesellschaften, gut institutionalisierte Systeme zur Wahrung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit sowie ein Bekenntnis zum Multilateralismus.
Und dennoch strauchelt die EU in vielen Bereichen, die für globale Führerschaft von entscheidender Bedeutung sind. Mangelnder politischer Wille hat dazu geführt, dass es in Europa immer wieder zu falscher Ressourcenallokation gekommen ist. Infolgedessen ist es nicht gelungen, angemessene gemeinsame Kapazitäten aufzubauen oder auch nur die Voraussetzungen dafür zu schaffen. So beharren führende Persönlichkeiten in der EU beispielsweise darauf, dass Europa „strategische Autonomie” erreichen muss, ohne sich jedoch darüber einig zu sein, was genau das zu bedeuten hat.
Auf grundlegenderer Ebene fehlt der EU das notwendige Selbstvertrauen, um der Welt als glaubwürdiges und überzeugendes Beispiel zu dienen. Um das zu ändern, gilt es für die EU zunächst, einen überzeugenden Daseinszweck definieren und vermitteln, der die Grundlage ihres eigenen wiederbelebten Modells bildet. Anschließend sind erhebliche Ressourcen – Zeit, Mühen und Geld – aufzuwenden, um Kapazitäten und einen Status aufzubauen, der zur Ausübung ihres Einflusses nötig ist. Kurzum: die EU muss ihren Worten Taten folgen lassen.
Solange das nicht geschieht und bis es soweit ist, werden die USA unverzichtbar – weil unersetzbar – bleiben. Aus diesem Grund ist es für die Biden-Administration umso wichtiger, als Initiativkraft nicht nur mit der Welt und dem multilateralem System wieder in Kontakt zu kommen, sondern auch einen Weg zur Heilung der USA zu finden. Nur ein einigermaßen geeintes Amerika kann aufrecht stehen, in die Zukunft blicken und als schlagendes Herz einer liberalen internationalen Ordnung fungieren.
(c) Project Syndicate
Internationale Politik und Gesellschaft